Seit Jahren prägen zunehmende Unterbesetzung, Überlastung und aufwendige Dokumentation den Stationsalltag in deutschen Kliniken. Frustration und Unzufriedenheit führen zu hohen Krankenständen, Personalfluktuation und häufig sogar zum kompletten Berufsausstieg. Durch die zusätzliche Belastung der Corona-Krise wurde diese Entwicklung deutlich verschärft. Diesem negativen Trend tritt das Klinikum Aschaffenburg-Alzenau nun mit einem bundesweit einmaligen Pilotprojekt entgegen.
In den kommenden Monaten wird eine chirurgische Station gänzlich neu strukturiert und organisiert. Der Fokus liegt dabei auf der interdisziplinären Zusammenarbeit der verschiedenen Gesundheitsberufe, synergetischen Tagesabläufen und dem Abbau von Hierarchien hin zu Strukturen, die auf die Bedürfnisse der Belegschaft ausgelegt sind. Besonders ist der Ansatz, dass diese Strukturen von den Mitarbeitenden selbst entwickelt und kontinuierlich angepasst werden und nicht von oben herab oder sogar von extern diktiert werden.
Neu ist außerdem eine gemeinsame Vorbereitung aller Kolleg*innen vor Projektstart mit einer Basisausbildung in selbstorganisiertem Arbeiten. Dabei geht es u.a. um Kommunikation, Entscheidungsfindung u. Konfliktlösung. Ab Januar 2023 wird die „Modellstation“ dann ihre Arbeit mit neuem Konzept im täglichen Regelbetrieb der Klinik aufnehmen.
Initiator des Projektes ist Hubertus Schmitz-Winnenthal, Chefarzt der Chirurgischen Klinik, der gemeinsam mit einem interdisziplinären Team bereits in den vergangenen Monaten neue Formen der Zusammenarbeit vorbereitet hat. „Auch wenn wir diesen Weg noch nicht kennen, und es im Klinikalltag nahezu keine Erfahrung damit gibt, besteht kein Zweifel daran, dass sich etwas ändern muss, um auch in Zukunft erfolgreich zu sein.“
„Wir wünschen uns Mitarbeiter für dieses Projekt, die echte Pioniere sind und etwas verändern wollen. Sie müssen bereit sein, Verantwortung zu übernehmen“, betont Prof. Schmitz-Winnenthal.
Die klassische Rollenverteilung zwischen Pflege und Ärzteschaft werde sich verändern, prophezeit er. Hier müssen Rollen ganz neu gedacht werden.
Ein bekanntes Beispiel aus dem Gesundheitsbereich, in dem grundlegende Strukturänderungen und selbstbestimmtes Arbeiten zu mehr Zufrieden bei Mitarbeitenden und Patient*innen geführt hat, ist das sehr erfolgreiche Pflegekonzept „Burtzoorg“ aus den Niederlanden.
Begleitet und evaluiert werden soll das Projekt durch wissenschaftliche Arbeiten von Studierenden der Universitäten Witten/Herdecke und Heidelberg, um evidenzbasierte Ergebnisse und Erkenntnisse für weitere Projekte und Kliniken zur Verfügung zu stellen.
Abschließend fasst Schmitz-Winnenthal zusammen, „Wir versuchen das Gesundheitssystem von innen heraus zu verändern. Der Patient muss wieder in den Mittelpunkt gestellt werden und die Mitarbeiter bekommen die Möglichkeit das zu machen, wofür sie den Beruf eigentlich ergriffen haben: dem kranken Menschen zu helfen.“
Prof. Schmitz-Winnenthal dankt auch der Geschäftsführung des Klinikums, welche die Ressourcen für dieses Projekt zur Verfügung gestellt hat und Klinikgeschäftsführer Sebastian Lehotzki lobt die Initiative: "In der aktuellen Situation ist kein Handeln ein Rückschritt."
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